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Frankreich vor großen Veränderungen?
Präsidentschafts- und Parlaments-Wahlen im Nachbarland
Wie die Wahlen 2017 das politische System Frankreichs verändern werden (oder auch nicht): Zehn Thesen

von
Dr. Michael Wehner,
Leiter der Außenstelle Freiburg der Landeszentrale für politische Bildung

1. Der französische Staatspräsident hat mehr Macht als der amerikanische.

Oft wird der US-Präsident als mächtigster Politiker der Welt bezeichnet. Doch die Amtsbefugnisse des französischen Präsidenten mit den Möglichkeiten eines (semi-)präsidentiellen Regierungssystems sind je nach politischer Gesamtkonstellation noch größer. Anders als in den USA verfügt der französische Präsident aufgrund der Verschränkung von Legislative und Exekutive sowie seinen Möglichkeiten das Volk per Referendum in den Entscheidungsprozess einzubeziehen über umfangreichere Kompetenzen und größere Machtmittel. Aufgrund der Direktwahl ist der Präsident wie in den USA als „republikanischer Monarch“ nur dem Volk und nicht etwa dem Parlament Rechenschaft schuldig.

2. Das französische Parlament ist schwächer als der deutsche Bundestag.

Mit der ihm von der Verfassung zugeschriebenen Kompetenz den Premierminister zu ernennen und die Nationalversammlung aufzulösen, hat der Präsident zwei Möglichkeiten die Parlamentsarbeit entscheidend zu beeinflussen. Das französische Parlament ist damit im Vergleich zum Deutschen Bundestag deutlich schwächer gestellt und von der „Exekutive gezähmt“, denn sowohl die Kanzlerwahl als auch die Auflösung des Bundestags bedürfen der Mitwirkung des Parlaments. Andererseits arbeitet die Nationalversammlung im Alltag des Gesetzgebungsprozesses ähnlich effizient wie der Bundestag.

3. Die Vorwahlen: lobenswerter Demokratisierungsprozess oder problematische Polarisierung?

Die Auswahl der Präsidentschaftskandidaten bei den Republikanern und bei den Sozialisten in Vorwahlen (mehr als 4 Mio Teilnehmende bei Les Republicains und mehr als 2 Mio bei der Parti Socialiste) ist ein Zeichen für die Demokratisierung des Auswahlprozesses bei der Kandidatenfindung in den Parteien. Der parteiinterne Wettstreit führte bei beiden Parteien allerdings zu Spitzenkandidaten (Fillon und Hamon), die polarisieren und in erster Linie mit ihren programmatischen Forderungen die Parteibasis zufriedenstellen. Ob diese Kandidaten geeignet sind, eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler anzusprechen, ist zumindest für 2017 mehr als zweifelhaft. Benoit Hamon, Kandidat der sozialistischen PS, liegt derzeit in den Umfragen sogar noch hinter dem Kandidaten der Linken Jean-Luc Mélenchon mit seiner Bewegung „La France insoumise“ (das aufsässige Frankreich).

4. Der größte anzunehmende Unfall: Die „plebiszitäre oder blockierte Präsidentin Le Pen“

Gewinnt Marine Le Pen die Präsidentschaftswahl, ist das Ende des traditionellen Zweiparteiensystems gekommen. Le Pen würde versuchen die Institutionen der 5. Republik zu verändern, das politische System Frankreichs zu einer plebiszitären (Referendums-)Demokratie mit mehr Volksentscheiden umzubauen und die Verfassung in wesentlichen Punkten zugunsten eines „Inländervorrangs“ zu ändern. Allerdings zeigt die Geschichte der bisherigen neun Volksentscheide seit 1958, dass die Resultate für die amtierenden Präsidenten nicht immer die Ergebnisse erbrachten, die von ihnen beabsichtigt waren. Außerdem besteht die Gefahr, dass die Wählerinnen und Wähler den Volksentscheid dazu benutzen, nicht über die konkret vorlegte Sachfrage, sondern über den Präsidenten selbst und die Zufriedenheit mit seiner gesamten Amtsführung abzustimmen (so wurde z.B. 2005 die Ablehnung des EU-Verfassungsreferendums für Präsident Jacques Chirac seine größte politische Niederlage). Auszuschließen ist auch, dass der Front National bei den sich anschließenden Wahlen zur Nationalversammlung im Juni eine Parlamentsmehrheit gewinnen kann. Es ist eher davon auszugehen, dass eine Anti-Le Pen-Koalition aus Sozialisten und bürgerlichen Konservativen die präsidentiellen Vorhaben blockieren würde. Der Premierminister einer solchen Anti-Le Pen- Koalition mit seiner parlamentarischen Mehrheit würde versuchen ein legislatives Programm gegen die Präsidentin durchzusetzen. Dies würde zu einer neuen Interpretation und Verfassungswirklichkeit der V. Republik führen: von der präsidentiell-exekutiven Dominanz hin zu legislativ-premierministerlichen Prärogativen und zur Reparlamentarisierung des semi-präsidentiellen Systems. Das „gezähmte“ Parlament würde sich von der präsidentiellen Vormacht emanzipieren.

5. Bringt Macrons Wahl den Sieg einer neuen Präsidenten-Partei oder die 4. Cohabitation?

Gewinnt Emmanuel Macron die Wahl, muss er innerhalb kürzester Zeit eine Partei gründen, für die 577 Wahlkreise geeignete Kandidaten auswählen, die notwendige Parteiorganisation mit einer entsprechenden flächendeckenden Infrastruktur entwickeln, den Wahlkampf für die Parlamentswahlen im Juni in die Wege leiten und mit den Sozialisten geeignete Wahlabsprachen treffen, um bürgerliche Wahlsiege oder die des FN zu verhindern. Entscheidend wird dann sein, ob die Wählerinnen und Wähler wollen, dass der Präsident mit einer ihm ergebenen Parlamentsmehrheit „durchregieren“ kann oder ihm eine konservative Mehrheit gegenüberstellen, was die 4. Cohabitation in der Geschichte der V. Republik zur Folge hätte. Eine Cohabitation eines „linken Präsidenten“ Macron, der einen pro-europäischen Kurs in der Außenpolitik und eine wirtschaftspolitische Reformagenda mit Reduzierung von Staatsaufgaben und die den Abbau von Beamtenstellen verspricht, mag durchaus für die vielbeschworenen Wähler und Parteien der Mitte eine attraktive und keineswegs abschreckende Alternative darstellen, auch wenn sich der präsidentielle Handlungsspielraum von einer aktiven, gestalterischen Rolle hin zu der eines Vetospielers reduziert, der in manchen Politikfeldern nur noch reagieren, aber kaum mehr (innenpolitisch) agieren kann und damit eine Abkehr vom „majoritären Parlamentarismus“ bedeuten würde.

6. Konservative Kontinuität: Mit Fillon so weiter wie bisher?

Die wenigsten Änderungen, was das politische System und die Funktionsweise des bisherigen „Zweieinhalb-Parteiensystems angeht“, wären wohl mit einem Wahlsieg Francois Fillons verbunden, der mit seinem traditionellen Parteienbündnis (Les Republicains) versuchen würde, die Parlamentswahlen im Juni zu gewinnen, um eine präsidentielle Mehrheit in der Nationalversammlung zu erhalten. Allerdings nicht um jeden Preis: derzeit ist nicht davon auszugehen, dass es bei den Konservativen unter Fillon zu Wahlabsprachen oder gar einer Koalition mit dem Front National kommen könnte, auch wenn jede dritte Wählerin und jeder dritte Wähler Fillons im Falle einer Niederlage seine Stimme bei der Stichwahl Marine Le Pen geben will. Einzelne Überläufer wird es allerdings durchaus geben. 2012 war in 541 von 577 Wahlkreisen ein zweiter Wahlgang notwendig, so dass regionale Absprachen, Parteiübereinkünfte und „freiwillige“ Verzichte an der Tagesordnung waren. 6158 Kandidatinnen und Kandidaten, durschnittlich 11,4 pro Wahlkreis, stellten sich damals den Bürgerinnen und Bürgern zur Wahl.

7. Die Neuerfindung der französischen Parteienlandschaft

Die fragile Parteienlandschaft der V. Republik wird auch nach den Wahlen 2017 in großer Bewegung sein. Die Parti socialiste wird sich neu organisieren und erfinden müssen. Am einfachsten wäre es, wenn Emmanuel Macron im Falle eines Wahlsiegs seine neue Bewegung mit den alten Parteikadern versöhnen und eine neue moderne sozialistische Partei gründen kann. Im Falle einer Wahlniederlage steht die Linke vor einem Scherbenhaufen und derzeit ist nicht absehbar, welche neuen Personen und Parteiströmungen sich dann durchsetzen werden und wie schnell es ihnen gelingen kann, die Sozialisten im Parteienwettstreit neu zu positionieren: Manuell Valls „Fahnenflucht“ zu Macron ist hierfür ein sinnbildliches Beispiel. Bei den Republikanern sieht es ähnlich düster aus, sollte Fillon die Wahlen verlieren. In den Vorwahlen wurde die gesamte alte Führungskaste verheizt und ein neuer Hoffnungsträger ist für die Partei derzeit nicht in Sicht. Erstmals in der Geschichte der V. Republik ist es gut möglich, dass der neue Präsident nicht aus den Reihen der Sozialisten oder Konservativen kommt.

8. Die Top-Themen des Wahlkampfs: Sicherheit und Stagnation

Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern sind auch in Frankreich die bestimmenden Wahlkampfthemen Innere Sicherheit, Islamismus, Terrorismus, Zuwanderung. So betrachten z.B. 62% aller Französinnen und Franzosen laut einer repräsentativen Umfrage der SciencesPo (Institut d’Études Politiques de Paris) den Islam als Bedrohung. Auch die Beurteilung der wirtschaftlichen Lage und ökonomische Stagnation des Landes werden wahlrelevante Themen sein. Jeder zehnte Franzose hat keinen Job, bei den unter 25-jährigen liegt die Arbeitslosigkeit bei 23%. In François Hollandes Amtszeit betrug das Wirtschaftswachstum seit 2012 zwischen 0,18 und 1,27 Prozent. Außerdem hat Frankreich seit 2015 230 Terror-Todesopfer zu beklagen, so viele wie kein anderes europäisches Land.

9. Die hohe Wahlbeteiligung, die Wechselwähler und die Wahlabstinenz der Jugend

Wie bei den zurückliegenden Präsidentschaftswahlen ist für beide Wahlgänge eine Wahlbeteiligung von um die 80% zu erwarten, während bei den Wahlen zur Assemblée Nationale 2012 nur noch 55,6% der wahlberechtigten Bevölkerung ihre Stimme abgaben. Auch dies ist ein Zeichen dafür, dass die Französinnen und Franzosen den Präsidentschaftswahlen höhere politische Relevanz zuweisen. Es könnte im Falle einer Wahl Marine Le Pens allerdings zum letzten Mal in der Geschichte der V. Republik sein. Auch in Frankreich sind Wahlen sehr volatil geworden. Immer mehr Menschen wechseln öfter ihre Parteipräferenzen und entscheiden quasi erst auf der Zielgeraden des Wahlkampfs, wem sie ihre Stimme geben. So geben 41% der befragten Französinnen und Franzosen an, dass sie noch nicht entschieden haben, wem sie ihre Stimme geben werden. (vgl. http://www.ipsos.fr/decrypter-societe/2017-03-17-enquete-electorale-francaise-vague-12-marine-pen-et-emmanuel-macron-aucoude-coude-au-premier-tour.) Ein besonderes Augenmerk sollte dem Wahlverhalten der jungen Franzosen unter 35 Jahren gelten: Werden sie überhaupt wählen gehen oder den Front national mit ihrer Proteststimme stärken? Denn Politik in Frankreich hat ein Jugendproblem: 75 Prozent der wahlberechtigten Franzosen unter 35 Jahren gingen bei der Europawahl 2014 nicht zu den Urnen. Von jenen jungen Franzosen, die von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten, stimmten 2014 ein Drittel für die Partei Le Pens. Auch bei den Präsidentschaftswahlen 2012 war die Wahlbeteiligung der 18-24-jährigen am geringsten und vor allem nahezu jeder Dritte männliche Jugendliche zwischen 18 und 24 blieben den Wahlkabinen fern (29,3%). Erste Vorwahlbefragungen deuten darauf hin, dass die Alterslücke bei der Wahlbeteiligung auch 2017 nicht geschlossen werden kann.

10. Überwacht und überschaubar? Die Wahlkampfkosten.

Anders als in den USA ist die Wahlkampf-Finanzierung gedeckelt. Die maximalen Ausgaben für den Wahlkampf werden per Dekret jedes Mal aufs Neue festgelegt und betragen 2017 für den ersten Wahlgang pro Kandidat 16,86 Millionen € und für den zweiten Wahlgang 22,51 Millionen €. ). Zusätzlich erhält jeder Kandidat ca. 153.000,- € für Plakate u. a. „offizielle“ Werbemittel. Erhält ein Kandidat weniger als 5 % der Stimmen, werden 4,7 % der Ausgaben durch den Staat zurückerstattet. Kandidaten, die mehr als 5% der Stimmen im ersten Wahlgang bekommen haben, erhalten 47% der Höchstsumme erstattet. Das gilt auch für den zweiten Wahlgang. Eventuelle Zuschüsse der politischen Parteien bleiben bei der staatlichen Zuwendung unberücksichtigt. Die Commission nationale des comptes de campagne et des financements politiques überwacht die Wahlkampfabrechnungen. Zum Vergleich: Hillary Clinton und die sie unterstützenden Organisationen gaben 1,4 Mia US-$, Donald Trumps Team knapp 1 Mia US-$ für ihre Wahlkämpfe aus. Außerdem müssen alle Bewerber um das Amt eine Erklärung über ihr Vermögen vorlegen, die spätestens 15 Tage vor dem ersten Wahlgang (also am 9. April 2017) veröffentlicht werden.

Übrigens:

1. In Baden-Württemberg haben sich derzeit 18 762 Personen für die Wahl registrieren lassen. In Freiburg wollen 6176 Franzosen wählen gehen, 2012 waren es nur 5 296 Eingeschriebene (880 mehr).

2. Französische Ausgaben des sogenannten „Wahl-O-Mat“, dem erfolgreichsten Produkt der politischen Bildung, gibt es auch: http://www.20minutes.fr/elections/boussole, https://www.quivoter.fr/, https://www.voteet-vous.fr/, https://france.isidewith.com/political-quiz. Einen übersichtlichen Vergleich der Positionen der einzelnen Kandidaten liefert: http://www.lemonde.fr/programmes/#haut-de-page

Weitere Informationen finden Sie auch hier: http://www.lpb-bw.de/praesidentschaftswahl_frank2017.html

Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Außenstelle Freiburg
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Eintrag vom: 13.04.2017  




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